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Wir sind es gewohnt uns für die wichtigen Entscheidungen Zeit zu nehmen. Möglicherweise liegt hier die größte Herausforderung, die die aktuelle Situation an uns, als Zivilgesellschaft stellt, denn annähernd jeden Tag fordert sie erneut von uns unter zeitlichem Druck eine richtige und weitreichende Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die fair ist, die wir moralisch vertreten können. Schließlich arbeiten wir in einer Branche, in der sich alles um das gesellschaftliche Wohl dreht. Gemeinsam haben wir uns einer zukunftsfähigen gesellschaftlichen Entwicklung verschrieben und uns vorgenommen mit unserem Einsatz und unserem Wissen einen Teil zu dieser beizutragen.
Was in einigen Ohren pathetisch klingen mag, ist letztendlich die Quintessenz internationaler Freiwilligendienste. Ein Internationales Freiwilliges Jahr ist eine besondere Form der Zusammenarbeit im globalen Kontext. Es soll auf Augenhöhe stattfinden, es soll in den Partnerländern und hier in Deutschland nachhaltig wirken. Und aus dem ‚Sollen‘ wird durch intensive pädagogische Begleitung und langfristige Zusammenarbeit mit Partnern in den Einsatzländern ein ‚Können‘. Augenblicklich erfahren wir, wie es ist, wenn Faktoren außerhalb unseres Einflusses dieses Können ins Wanken bringen und gar zu kippen drohen.
In unserer Arbeit ist es wichtig stets die Situation der Anderen im Blick zu behalten und die Schwierigkeiten, denen wir gegenüber stehen in Kontext zu setzen. Wir müssen mit ehrlichem Blick auf die Bedarfe unserer Branche schauen und die der Anderen. Die derzeitige Krise können wir als Chance nehmen, zukünftige Freiwilligendienste vor dem Hintergrund akuter globaler und gesellschaftlicher Herausforderungen weiterzuentwickeln.
In den letzten Wochen mussten wir vieles ad-hoc entscheiden, selten wussten wir ob Aussagen, die an einem Tag getroffen wurden, am nächsten noch Bestand haben würden. In unserer Verantwortung der Begleitung der Freiwilligen und der Zusammenarbeit mit Partnern, Mitgliedern und Kolleg*innen erhöht sich der Druck mit jedem weiteren Tag neuer Meldungen. Gleichzeitig scheint genau jetzt der richtige Zeitpunkt zu sein inne zu halten und diese Zwangspause internationaler Zusammenarbeit zu nutzen unseren Blickwinkel zu verändern. Die Umsetzung unserer etablierten Prinzipien - von globaler Solidarität und Zusammenarbeit auf Augenhöhe in der Praxis internationaler Zusammenarbeit - kann jetzt überprüft und neu aufgelegt werden.
Es scheint gar unsere Pflicht als Bürger*innen einer westlichen Gesellschaft, wenn wir in Betracht ziehen, dass ein Teil der Verantwortlichkeiten für diese Krise bei uns liegt. Eine privilegierte Gesellschaft schiebt solche Gedanken mit Leichtigkeit beiseite…so lange bis sie selber betroffen ist.
Wir können unsere Arbeit in Programmen wie weltwärts, dem Internationalen Jugendfreiwilligendienst und Incoming-Diensten für eine nachhaltige Bildung der Gesellschaft nutzen, um junge Menschen auf diese Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Wir können die Strukturen, in denen wir arbeiten auf den Prüfstand stellen. Wir können und müssen Unterstützung für die qualitative Anpassung unserer Arbeit einfordern. Wir mit unserem Wissen und unserer Erfahrung sind es, die aktiv die Entwicklung zukunftsfähiger internationaler Freiwilligendienste gestalten.
Inga Eumann (AKLHÜ Referentin für Internationale Freiwilligendienste)