Entwicklungsdienst in Zeiten der globalen Pandemie: Die Krise gemeinsam bewältigen

Ein Beitrag von Dr. Gabi Waibel, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste e.V. (AGdD)

Seit über einem Jahr erleben wir starke Einschränkungen von Kontakten und Mobilität, sogar Grenzen werden geschlossen. Wir lernen, dass die Risiken der Pandemie unterschiedlich sind und dass es international verschiedene politische Antworten darauf gibt. Wir können nicht wie üblich planen, müssen Unsicherheit aushalten und machen viele neue (Lern-)Erfahrungen. Das gilt für jeden von uns – und auch für den Entwicklungsdienst insgesamt. Wie sieht unsere aktuelle (Zwischen-)Bilanz aus? Wenn wir auf die Stimmen von Fachkräften, Partner- und Entsendeorganisationen hören, so ergibt sich folgendes Bild: Die Pandemie verschärft Armut und Ungleichheit, unsere Zusammenarbeit ist wichtiger denn je und wir haben es trotz der Einschränkungen gut geschafft, unsere Arbeit fortzuführen. 

Im März 2020, als Grenzen geschlossen, der internationale Flugverkehr sukzessive eingestellt und die Gefahren der Pandemie immer bedrohlicher wurden, erfolgten erste Evakuierungen, auch von Fachkräften und ihren Familien. Die meisten kamen nach Deutschland und es musste schnell gehen. Neben der drängenden Frage, ob es noch Flugtickets gab, mussten Familienangehörige, die weder einen europäischen Pass, noch ein Schengen-Visum hatten, bangen, ob sie überhaupt reisen konnten. Das war die erste Herausforderung, mit der sich die Entsendeorganisationen über die AGdD (Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste) an das zuständige Ministerium wandten und um Unterstützung baten. Der Krisenstab des BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und das Auswärtige Amt wurden aktiv: Konsulate und Botschaften vor Ort wurden gebeten, bei allen Risikofällen (Gefährdung von Gesundheit und Sicherheit) die Verfahren zu beschleunigen.

Fachkräfte und ihre Familien kamen an, nur mit dem Notwendigsten im Koffer und von Anfang an mit dem Ziel, den Dienst vor Ort sobald wie möglich fortzusetzen. Die Dynamik der Pandemie machte allerdings schnell deutlich, dass Rückreisen kaum planbar waren. Dies hatte zwei Konsequenzen: Zum einen erprobten Fachkräfte das mobile Arbeiten als vorübergehendes Format der Zusammenarbeit. Zum anderen brauchte es flexiblere Regelungen für die Unterhaltsleistungen, da diese - nach Entwicklungshelfer-Gesetz - daran gebunden sind, dass Entwicklungsdienst im Partnerland geleistet wird. Nach ersten Beratungen verabschiedete das BMZ eine erste ‚vorübergehende Regelung während der Pandemie‘, die dann im Sommer neu verhandelt werden musste.

Bis Mitte Mai hatten gut 30 % aller Fachkräfte ihren Dienstort verlassen – damit war (nach heutigem Kenntnisstand) der Höchstwert an Evakuierungen erreicht. Noch im gleichen Monat erfolgte schon die erste Rückreise - nach Zimbabwe - doch zeigte sich, dass fehlende Flugverbindungen und restriktivere Visa- und Einreisebestimmungen die Ausreise in viele Länder stark verzögern würde. Es sollte noch Wochen und Monate dauern, bis fast alle Fachkräfte wieder an ihre Dienstorte zurückkehren konnten. Das Warten und die Unsicherheit konnten zermürbend sein, einige befürchteten ein vorzeitiges Vertragsende und die Sorge um die Gesundheit und die verschärften Lebensbedingungen der Kolleg*innen sowie des privaten Umfelds im Partnerland nahmen zu.

Der Austausch im Dachverband wurde intensiver: es gab viel Unsicherheit mit Blick auf die Entwicklung der Pandemie, die Situation der Partner vor Ort, die Finanzierungslage und die vertraglichen Bedingungen der Fachkräfteentsendung. Die Träger formulierten ihre Befürchtungen:

Kündigungen gefährden unsere Partnerschaften und Strukturen der Zusammenarbeit, die wir über Jahre mit viel Engagement aller Beteiligten aufgebaut haben. Das betrifft ganze Programme und Netzwerke, auch in Regionen in denen der Aufbau solcher Strukturen sehr mühsam und langwierig ist. Wir riskieren Vertrauen und würden an Substanz einbüßen. Das gilt für den Entwicklungsdienst und den Zivilen Friedensdienst. ( ….)  Die Aufrechterhaltung der, durch die Fachkräfte auch persönlichen, Beziehungen (sind) im Moment besonders wichtig. Sie stellen eine Brücke zwischen den Welten dar. Bei Entscheidungen muss das Votum von Partnerorganisationen gehört werden.

In dieser Phase gab es viele hilfreiche Gespräche mit dem BMZ, die AGdD informierte regelmäßig über den aktuellen Stand der Evakuierungen und Rückreisen und neue Berichtsformate wurden abgestimmt. Im Sommer war klar, dass mobiles Arbeiten auch im Entwicklungsdienst effektiv möglich ist und das BMZ passte die vorübergehende Regelung im September 2020 nochmals an. Seitdem gilt, dass während der andauernden Pandemie Evakuierungen auf neun Monate zeitlich befristet sind und zusätzlich in Einzelfällen Ausnahmen gewährt werden können. Für diese Flexibilisierung des rechtlichen Rahmens sind die Dienste dankbar. Inzwischen können wir sagen, dass es nur in vergleichsweise wenigen Fällen zu Vertragsauflösungen gekommen ist. Auch diese hätten wir gerne vermieden, aber manchmal ist auch die Basis eines Projekts mit der Pandemie (zumindest vorübergehend) weggebrochen, so z.B. im Bereich nachhaltiger Tourismus.

Im Laufe der letzten Monate konnten die meisten Fachkräfte wieder an ihre Arbeitsplätze und Projekte zurückkehren; dafür haben sich viele engagierte Kolleg*innen eingesetzt. Nicht überraschend ist, dass der Unterstützungsbedarf in den Projekten steigt. So braucht es allein im gesundheitlichen Bereich innovative Maßnahmen zur Aufklärung, praktische Hilfe, Geld und Ausstattung sowie Kampagnen zur Bekämpfung von Mythenbildung und Stigmatisierung. Dass hier schnelle und kreative Lösungen gefunden werden, davon zeugen anschauliche Berichte von Fachkräften, die z.B. hier nachzulesen sind: https://www.agdd.de/de/dabei/erfahrungen-von-fachkraeften/entwicklungsdienst-waehrend-der-corona-pandemie

Die Berichte vermitteln Einblicke in Lehrgänge unter freiem Himmel in der Ukraine, die Umsetzung von Hygiene-Standards in der Republik Kongo, Aufklärung mittels Street Art im Senegal oder Schulungen zur Seifenherstellung in Burkina Faso, die zur Verbesserung von Hygiene und Einkommen beitragen. Aus vielen Orten und Ländern hören wir auch: die Pandemie verschärft Ungleichheit und Armut und sie trifft jene am stärksten, denen es ohnehin am schlechtesten geht. Konflikte und Gewalt nehmen zu, auch die im häuslichen Raum. Gerade deshalb ist Krisenprävention jetzt wichtiger denn je. Und schließlich darf man nicht vergessen: Ereignisse wie der große Brand in Beirut oder die politische Krise in Myanmar kommen zu all den anderen schwierigen Bedingungen noch hinzu und stellen die Menschen vor Ort vor enorme Herausforderungen.

Wie wichtig Partnerschaften und die Fachkräfte in dieser Zeit sind, zeigt die von Christliche Fachkräfte International beauftragte Studie zur Evaluierung ihrer Arbeit unter den besonderen Bedingungen der Pandemie. Die Ergebnisse des Zwischenberichts (Fakt 2020; https://bit.ly/2PSTbUy) sind für alle Träger eine Bestätigung:

Aus Partnerperspektive sind – trotz mancher Einschränkungen – die Entwicklungshelfer*innen aus der Projektarbeit nicht wegzudenken. … Während sich manche ursprüngliche Aufgabenstellung durch mobiles Arbeiten oder tatsächliche Umstände (Lockdown auch für die Zielgruppen) geändert hat, sind wichtige neue Aufgaben in der Organisationsberatung hinzugekommen. (….) Viele Partner sehen schon jetzt, dass bei einem weiteren Fortdauern der Pandemie die Aufgabenstellungen eher noch umfangreicher werden.

Fazit und Ausblick:

  • Aktuell arbeiten über 1.000 Fachkräfte im Entwicklungsdienst und Zivilen Friedensdienst in 88 Ländern weltweit; über 96% sind an ihrem Dienstort. Die Träger, das BMZ, die Partner und die Fachkräfte selbst tragen alle dazu bei, dass dies möglich ist. 
  • Erfreulich ist, dass seit Beginn der Pandemie Rekrutierungen für Stellen im Entwicklungs- und Zivilen Friedensdienst kontinuierlich stattfinden konnten. Es kostete eine große Anstrengung die Verfahren sowie die Vorbereitungskurse fast vollständig zu digitalisieren und es kam auch hier zu Verzögerungen bei der Ausreise. Dass Standardangebote bei wichtigen Bildungsträgern ausfielen, stellte über Monate eine große Herausforderung dar. Aktuell vermelden alle Dienste eine sehr gute Bewerberlage – ein positives Signal für die ungebrochene Bereitschaft, trotz und vielleicht gerade wegen der Krise und deren Folgen, Entwicklungsdienst zu leisten. Aktuell bereiten sich 76 Menschen im In- oder Ausland auf ihre Dienstzeit vor.
  • Die Fachkräfte werden vor Ort gebraucht und auch für sie gilt: Impfungen sind der beste Schutz. In der neuen Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung des BMG (Bundesministerium für Gesundheit) vom Dezember 2020 sind sie explizit berücksichtigt und, mit der letzten Anpassung im März dieses Jahres, in Gruppe 2 mit ‚erhöhter Priorität‘ aufgeführt. Die Verfügbarkeit von Impfstoff variiert und es braucht nach wie vor Geduld und Vorsicht. Wir hoffen, dass wir auch weiterhin keine Corona-bedingten schweren Krankheitsverläufe oder gar Todesfälle zu betrauern haben. In Notfällen greift das bestehende Krisen- und Sicherheitsmanagement der Träger, das auch Evakuierungen ermöglicht.
  • Auch in der AGdD Geschäftsstelle hatten und haben wir mehr als genug zu tun (von ‚Entschleunigung‘ keine Spur). Die Dachverbandsarbeit ist mehr geworden, und auch im Förderungswerk, wo wir Rückkehrer*innen unterstützen, sind die Beratungsanfragen in 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 45% gestiegen. Hier spielen die Pandemiesituation und die Verschlechterung des Arbeitsmarktes für Arbeitssuchende eine wesentliche Rolle. Alle Angebote wurden digitalisiert und sogar inhaltlich erweitert – die Mitarbeiter*innen haben sehr flexibel und engagiert auf die große Nachfrage reagiert.
  • Mit Blick auf das große Ganze gilt: Die Pandemie stellt ein Risiko für die Umsetzung der Agenda 2030 und ihrer 17 Nachhaltigkeitsziele dar. Deshalb ist es gerade jetzt umso wichtiger, dass unsere Solidarität und das globale Engagement nicht nachlassen. Die Partner zählen darauf, dass wir diese Krise gemeinsam bewältigen und dies gelingt weniger über große Distanz als über die persönliche Begegnung, das Miteinander und die Zusammenarbeit vor Ort. Und es bleibt uns ein großes Anliegen, auch hier in Deutschland auf diese Zusammenarbeit und ihre Herausforderungen stetig hinzuweisen und um Unterstützung zu werben. Stellvertretend für uns alle mahnt der Weltfriedensdienst (www.wfd.de):

Corona besiegen wir nur weltweit.

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