Ein Beitrag von Martin Vehrenberg und Katharina Engels (AGIAMONDO)
Trotz des formalen Endes der kolonialen Epoche wirken die Erfahrungen daraus in den involvierten Gesellschaften und ihren Beziehungen zueinander fort. Während die Kolonialmächte und ihre Nachfolgegesellschaften durch diese Art Ausbeutung und ihre Folgen bis heute wirtschaftlich profitieren, leiden die ehemals kolonisierten Gesellschaften nach wie vor an den Folgen von Sklaverei, Ungerechtigkeiten, Gewalt und ethnischen Konflikten, die durch die Kolonialsysteme für ihre Ziele eingesetzt wurden. Durchgehend festzustellen sind dabei diskriminierende bis rassistische Haltungen und Denkmuster als Folge kolonialistischer Dominanz, Machtasymmetrien und Gewalt. Nicht selten sind es vor allem zwischenmenschliche Beziehungsstörungen, in denen die Anwesenheit der durch Gewalt, Terror, Unrecht, Völkermord und insbesondere die Sklaverei und das Aufkommen eines ideologisch aufgeladenen Rassismus belasteten kolonialen Vergangenheit in besonderer Weise im Hier und Jetzt durchbricht.
Bei der 7. Internationalen Fachtagung zur internationalen Personellen Zusammenarbeit zum Thema „Auftrag oder Utopie: Dekolonisierung in der Personellen Zusammenarbeit (PEZ)“ die von den Personaldiensten Horizont3000 (Österreich), Comundo (Schweiz) und AGIAMONDO (Deutschland) im April diesen Jahres organisiert worden war, gingen die Teilnehmer*innen der Frage nach, wie in diesem Spannungsfeld die Zusammenarbeit zwischen Süd und Nord angemessen stattfinden und gestaltet werden kann.
Nikita Dhawan, Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt „Politische Theorie und Ideengeschichte“ an der TU Dresden, führte in das Thema ein und kritisierte zunächst die Dominanz einer relativen Geschichtsvergessenheit bezüglich des Kolonialismus im deutschsprachigen Raum. Um die Grundsätze der Gleichheit und Gerechtigkeit strukturell in der Gesellschaft zu verankern, sei es dringend notwendig, den großen Widerstand gegen die Institutionalisierung von Vielfalt abzubauen. Es sei daher unerlässlich, so die Wissenschaftlerin, dass die Politik die Überschneidung und Gleichzeitigkeit von mehrfachen Diskriminierung bestimmter Personengruppen anerkenne und dies zusammen mit einem vorurteilslosen Umgang mit Vielfalt und Diversität innerhalb des neoliberalen Pluralismus und des globalen Kapitalismus als Hauptströmung verortet werde. Denn bisher würde hier „Differenz“ als Alibi genutzt, damit sich das bestehende System nicht verändern müsse.
Hinsichtlich der Dekolonisierung in der Personellen Zusammenarbeit, könne es keine allgemeine Regel geben, sagte Nikita Dhawan. Es sei jedoch wichtig, jeweils Kontext-sensibel zu arbeiten und genau hinzuschauen, was die Prioritäten der Menschen in unseren Arbeitskontexten wirklich sind. „Wir müssen in den Dialog gehen und eine Ethik des Zuhörens entwickeln“ so die Wissenschaftlerin. Es gelte aufmerksam zu sein, dass wir nicht immer schon wissen, was zu tun ist und was gerade gebraucht wird. Die Herausforderung sei es, Räume zu schaffen, in denen Beziehungen mit Menschen gestaltet werden, die unterschiedlich in der Hierarchie platziert seien, in denen offen miteinander kommuniziert werden kann und man ehrlich miteinander ist. Das sei ein schwieriger Prozess, gerade angesichts eines so gewaltvollen Erbes wie der Kolonialisierung, dem man sich jedoch immer wieder neu stellen müsse.
In der Zusammenarbeit sei es essenziell, ganz genau hinzuschauen, wo man möglicherweise arrogant sei und sich nicht die Mühe machte hinzuhören. Sie warnte vor Ungeduld in solchen Prozessen. Denn diese sei Teil der kolonialen Ausbeutungsstruktur. Hier müssen wir gerade in der Personellen Zusammenarbeit aufmerksam sein. Die Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten sind nicht nur Informationsgeber, sondern die Zusammenarbeit will gemeinsam gestaltet werden. Das braucht Zeit.“
Die Träger des Zivilen Friedensdienstes (ZFD), darunter auch AGIAMONDO, haben sich in den vergangenen Jahren mit dem Thema befasst und dabei zum Teil Strukturen und Prozesse ihrer Zusammenarbeit mit ihren Partnern weltweit überprüft und verändert. Im Rahmen des Konsortium ZFD haben sie bereits vor Beginn der Pandemie begonnen, sich über ihre Ansätze in der Auseinandersetzung mit dem Thema auszutauschen. Von Beginn an war dieser Diskurs verbunden mit dem Ziel, die Debatten über den Umgang mit dem kolonialen Erbe nicht nur zu Veränderungen auf Ebene der einzelnen Träger zu
nutzen, sondern auch den Rahmen des Gemeinschaftswerks ZFD dort anzupassen wo dies als notwendig erachtet wird. Erste Veränderungen dieser Art sind bereits erfolgt. Hierzu gehört zum einen die Möglichkeit, neben den vorwiegend aus Deutschland und der EU stammenden und in den Partnerländern tätigen ZFD-Fachkräften auch sogenannte Süd-Nord ZFD-Fachkräfte aus den Partnerländern im Rahmen von ZFD-Projekten nach Deutschland zu vermitteln, wenngleich dies bisher nur in sehr wenigen Fällen zu Umsetzung kommt. Zum anderen besteht die Möglichkeit, neben Deutschen und EU-Bürgern auch sogenannte Drittstaaten-Fachkräfte und damit auch Fachkräfte aus dem Globalen Süden als ZFD-Fachkräfte unter Vertrag zu nehmen.
Das Erbe des Kolonialismus ist nicht ein deutsches Problem, das wir „lösen“ könnten und das vor allem wir „lösen“ müssten. Es geht um ein gemeinsames, allerdings asymmetrisches, Erbe der westlichen, vor allem der europäischen, Gesellschaften und der ehemals kolonial unterdrückten Gesellschaften. Wenn wir versöhnte Beziehungen anstreben, müssen wir nach einem gemeinsamen Weg suchen, der auch eine Transformation der Strukturen beinhaltet. Erst dies wird eine „Zusammenarbeit auf Augenhöhe“ ermöglichen, von der so viel die Rede ist.
Damit wir diesen Weg gemeinsam mit unseren Partnern im Globalen Süden gehen können, ist es geboten, dass wir als deutsche Akteure der internationalen Zusammenarbeit eine klare Haltung als Suchende und Lernende einnehmen und der Versuchung widerstehen, unsere Partnerorganisationen mit unserem Diskurs und bereits gefundenen „Antworten“ zu überwältigen, wie dies oft in der Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit geschehen ist. Es geht dabei zunächst darum, dass wir uns die richtigen Fragen stellen. Im Dialog mit unseren Partnerorganisationen im Globalen Süden ist es notwendig, dass wir die Besonderheiten und Verschiedenheiten der jeweiligen Kontexte und Prägungen durch den Kolonialismus in unseren Partnerländern wahr- und ernst nehmen. Entsprechend adäquat muss auch unser Umgang mit ihnen sein.
Dies gilt besonders für unser ZFD-Schwerpunktthema „Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit“, das ganz besonders eng mit Fragen des Umgangs mit dem kolonialen Erbe, den Erfahrungen von Gewalt, Vertrauensverlust, asymmetrischen Beziehungen, Ohnmacht etc. verbunden ist. In einem Lernprozess, den AGIAMONDO seit anderthalb Jahren u.a. gemeinsam mit Partnerorganisationen verfolgt, wurden zentrale Erfahrungen gewonnen, die deutlich machen: es geht um das Heilen von verletzten Beziehungen.
Und dabei geht es immer um konkrete Erfahrungen und soziale Realitäten, die in Kontext, Kultur und Geschichte eingebettet werden müssen. Wir hören und sehen die Erfahrungen der anderen, indem wir mit ihnen und nicht über sie sprechen. Wir nehmen kontextuelle Unterschiede wahr, verallgemeinern nicht und versuchen nicht, Fragen nach dem Motto „one fits all“ zu klären. Wir haben es mit verletzten Identitäten zu tun und zwar auf allen Seiten: Unsere Weltbilder sind erschüttert. Wir sind unsicher in Beziehung und Kommunikation und wissen oft nicht mehr, was nun korrekt ist zu fragen, zu sagen oder gar zu denken. Wir versuchen das ehrlich zu zeigen. Wir schaffen Raum, für das Unbehagen, dass wir spüren, akzeptieren die Spannung in der Beziehung und sprechen sie mit den Partnerorganisationen an. Es geht darum, in Beziehung zu gehen, gemeinsam mit den anderen über Verletzungen und Unbehagen zu reflektieren und die Beziehungen im Austausch nachhaltig zu gestalten.
Gerade im Zivilen Friedensdienst sehen wir gute Potenziale einen heilsamen Umgang mit dem kolonialen Erbe zu finden. Die Träger des ZFD verfügen über langfristige, belastbare Beziehungen zu einer Vielzahl an Partnerorganisationen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen in den Konfliktländern. Dies bietet oftmals eine Vertrauensgrundlage, die dazu beiträgt, das Thema in angemessener Weise zu bearbeiten.
Kontextanalysen, Handlungstheorien und Strategien für ZFD-Programme in den Partnerländern werden vor Ort und gemeinsam mit den Partnerorganisationen entwickelt. Die Partner beteiligen sich außerdem an der Entwicklung von übergreifenden Programmpolitiken und Qualitätsprozessen der Trägerorganisationen. Die Verantwortung für die Aktivitäten des ZFD in den Partnerländern liegt in den Händen der Partner.
Die große Mehrzahl der ZFD-Trägerorganisationen begibt sich in der Projektzusammenarbeit vor Ort bewusst unter das Dach einheimischer Partner und möchte über keine eigenständige rechtliche, organisatorische und politische Macht im Partnerland verfügen. Im Vordergrund des ZFD steht nicht die finanzielle Förderung von Projekten. Menschen gestalten
Gerechtigkeit und Frieden: Der Kern des ZFD, seine meist aus Deutschland und anderen Gesellschaften der ehemaligen Kolonialmächte stammenden internationalen Fachkräfte sind fast immer integrierte Fachkräfte, d. h. Mitarbeiter*innen der einheimischen Partnerorganisationen und den Leitungen der Partnerorganisationen unterstellt. Das Mandat für ihre Tätigkeit vor Ort erhalten sie von der Partnerorganisation. Sie leisten einen solidarischen Fachdienst und bemühen sich um einen lokal angemessenen Lebensstil, der trotz aller fortbestehenden Unterschiede in materieller Hinsicht die Beziehung zu den Partnerorganisationen nicht belasten soll.
Der ZFD setzt an der Veränderung von individuellem und kollektiven Verhalten an, um Konflikte gewaltfrei zu transformieren. Als Programm der Personellen Zusammenarbeit besteht er im Kern aus Beziehungsarbeit, Austausch- und Lernprozessen der internationalen ZFD-Fachkräfte mit den Kolleg*innen in den Partnerorganisationen. Die Mitarbeiter*innen der Trägerorganisationen und die ZFD-Fachkräfte werden von Beginn ihrer Tätigkeit an befähigt, ihre Haltungen und Werte individuell und im Dialog und der Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen in den Partnerländern zu reflektieren, Machtverhältnisse in Strukturen und Prozessen kritisch zu analysieren und eigene unbewusste rassistische oder diskriminierende Prägungen, Denkweisen und Haltungen zu erkennen. Hierfür erhalten sie Trainings und kontinuierliche Begleitung, z. B. durch Coaching. Auch ein offener und zugewandter Austausch mit Partnern trägt zu einer bewussten Haltung im Umgang mit kolonialen Kontinuitäten bei.
Der Prozess in dem wir arbeiten braucht Zeit und geduldiges sich Einlassen. Spannungen, Komplexität und Ambivalenzen im Umgang mit dem Kolonialen Erbe müssen wir aushalten und akzeptieren, dass wir immer nur wieder scheitern können, was uns nicht entmutigen sollte. Letztlich werden wir akzeptieren müssen, dass wir manche Machtasymmetrien noch lange Zeit werden mittragen müssen.