Willig, aber nicht gewollt? Hürden, die Incoming-Freiwillige vor Beginn ihres Dienstes meistern müssen

Ein Beitrag von Christina Schulte (Geschäftsführerin von VIA e.V. und AKLHÜ Vorstandsmitglied) über die Herausforderungen und Chancen von Incoming-Diensten.

Der zweite Montag im vergangenen Dezember war ein guter Tag, denn um 11:50 Uhr bekam ich eine E-Mail meiner pädagogischen Kollegin im Bereich Incoming-Freiwilligendienste: „Juhu, es geht wieder los: Bewerberin S. hat endlich einen Termin in der Deutschen Botschaft!“

Nach fast einem Jahr ohne Einreisen von internationalen Freiwilligen löste diese Email neben Jubel auch Erleichterung aus. Ein Hauch von Hoffnung, ein erster Schritt in Richtung Normalität.

Der Botschaftstermin ist bei uns der Moment, an dem sich die Hebel der Feinabstimmung in Bewegung setzen: Wann könnte S. das Visum wirklich in den Händen haben, was ist der nächstmögliche und günstigste Flug, wie fährt sie weiter in die Einsatzstelle, wer nimmt sie dort in Empfang, ist ihr Zimmer dann auch fertig, wie ist die Quarantäne geregelt, wer führt sie an ihrem ersten Arbeitstag ein und auf welches Einreiseseminar platzieren wir sie? Nach über 20 Jahren internationaler Arbeit ist das natürlich Routine, und doch bei jeder*m Freiwilligen wieder anders und aufregend. Vor allem während der Pandemie.

Mitten in diesen detaillierten Vorbereitungen dann die große Enttäuschung: Das Visum für S. wird von der Deutschen Botschaft abgelehnt. Begründung: „Insbesondere konnten Sie nicht den Eindruck entkräften, dass Sie nicht wieder in ihr Heimatland zurückkehren möchten.“ Was vielleicht nicht jeder weiß, der nicht in diesem Feld arbeitet: Die Bereitschaft, nach dem Dienst in das Herkunftsland zurückzukehren, ist ein entscheidender Faktor bei der Erteilung des Visums für die Freiwilligen. Das heißt, die Erlaubnis dafür, in unseren Altenheimen, Behinderteneinrichtungen, Schulen oder Kindergärten Menschen zu unterstützen, und das übrigens ohne Bezahlung, nur gegen Unterkunft, Verpflegung und ein Taschengeld, diese Erlaubnis also ist gekoppelt an die bereits vorher glaubhaft versicherte Bereitschaft, nach dem Dienst an unserer Gesellschaft das Land wieder zu verlassen.

Wenn Freiwillige bei dem Termin erzählen, dass sie schon Bekannte in Deutschland haben, und damit vielleicht zeigen wollen, dass sie sich aus erster Hand über Deutschland informiert haben, dass sie hier Orte und Menschen haben, an denen sie andocken können, was ihre Integration erleichtert und natürlich wichtig für ihr Wohlbefinden ist – dann kann das so ausgelegt werden, dass sie nach ihrem Freiwilligendienst in Deutschland bleiben wollen. Und damit haben sie ihr Visum so gut wie verwirkt.

Eine Rückkehrbereitschaft nachweisen könnten die Freiwilligen dagegen mit einem engen familiären Netz im Herkunftsland, also mit Ehepartner*in und Kindern. Mit Anfang 20 haben das wenige Menschen vorzuweisen. Auch ein fester Job wäre eine gute Rückkehrbereitschaft – bei künftigen Freiwilligen in der Regel auch Fehlanzeige. Auch wir und unsere Entsendepartner befürworten, wenn die internationalen Freiwilligen nach ihrem Dienst mit ihren Erfahrungen und neuen Kompetenzen in ihrem Herkunftsland etwas von dem Gelernten weitergeben könnten. Doch die Kriterien scheinen hier nicht ganz passend gewählt. Der DAAD hat bereits reagiert und knüpft seine Stipendien für internationale Studierende nicht länger an deren Rückkehrbereitschaft.

Für künftige Freiwillige wird jedoch weiterhin die Rückkehrbereitschaft geprüft und so darf S. erstmal nicht einreisen, die Wohngruppe in H. bekommt keine Unterstützung. Das Zimmer steht leer und niemand erzählt den Bewohner*innen welche Feste gerade im Heimatland von S. gefeiert werden oder wie dort typische Gerichte schmecken. Die examinierten Kräfte versuchen somit neben ihren Tätigkeiten auch noch das zu übernehmen, was die Freiwillige sonst geleistet hätte, zum Beispiel Gespräche ohne Zeitdruck führen und individuelle Freizeitbeschäftigungen organisieren.

Ohne internationale Freiwillige geht uns aber noch viel mehr verloren als der Einblick in eine neue Kultur und die intensivere Begleitung unserer Liebsten. „Unsere diakonischen Einrichtungen können Lernorte sein“, schreibt Pfarrer Matthias Schärr, Vorstand der Evangelischen Stadtmission Heidelberg, einer Einsatzstelle von uns, im Jahresheft 2019/2020. „Immer wieder sind wir in unserer Gesellschaft (…) dazu aufgefordert, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die unterschiedliche Erfahrungen, Einstellungen und vielleicht manchmal auch Werte mitbringen. Ich bin überzeugt, dass wir voneinander lernen können.“

Das bin ich auch, denn ich habe es unzählige Male selbst erleben dürfen. Aber was bedeutet es genau, voneinander zu lernen? Und was haben wir davon?

Aus meiner Erfahrung bedeutet es, dass nicht nur die Freiwilligen die deutsche Sprache und vielleicht ihre Dialekte lernen,  Grundlagen eines Berufsfeldes, die Grundzüge des deutschen Gesundheits- und Sozialsystems und manchmal auch das Fahrradfahren, sondern es bedeutet auch, dass die Menschen, mit denen die Incomer*innen Kontakte pflegen, etwas lernen: Zunächst ganz konkret Informationen über das Herkunftsland und einzelne Wörter in der Sprache. Vor allem aber lernen sie eine neue Sichtweise kennen, einen Blick von außen auf das, was hier zum Beispiel als richtig und unverzichtbar gilt. Das erweitert den Horizont und ermutigt zur Flexibilität und Kreativität. Gleichzeitig verlangsamt („entschleunigt“) es die bekannten Prozesse und lädt zum Hinterfragen ein. Im Coaching, in der Beratung und in der Organisationsentwicklung wird dieser Blick von außen professionell genutzt. Die Funktion ist dieselbe: Das Bekannte durch den Blick von außen überprüfen, Bewährtes erhalten, mit Neuem verbinden, Unnützes ersetzen oder streichen.

Wie wir Träger von internationalen Freiwilligendiensten und Einsatzstellen, die tagtäglich mit dem Blick von außen zu tun haben, davon profitieren, liegt auf der Hand: Unser System rostet nicht ein, es wird ständig hinterfragt und so „geölt“. Was die Gesellschaft von den Incomer*innen hat, neben den hilfreichen Kräften für unsere sozialen und pädagogischen Einrichtungen, wäre meiner Meinung nach eine weitere Untersuchung wert. Sicher ist, dass die oben genannten Eigenschaften Flexibilität, Kreativität, Mut und Anpassungsfähigkeit nicht nur im Umgang mit den Incoming-Freiwilligen nützlich sind, sondern im gesamten Leben immer wieder sehr wichtig werden. Bekannt ist auch bereits, dass wir das, was wir kennen, weniger fürchten. Kontakte zu internationalen Freiwilligen können also wichtige Eigenschaften trainieren, dazu beitragen, Ängste gegenüber dem Fremden abzubauen und im Voraus gefällte Urteile über Menschengruppen zu überprüfen. Vorurteile funktionieren über Verallgemeinerungen und unzulässige Rückschlüsse auf Gruppen von Menschen. Individuelle Kontakte dagegen können helfen, die Verallgemeinerungen aufzubrechen.

Wenn das, was wir in unserem Alltag mit unseren Incoming-Freiwilligen in unseren Einsatzstellen, den „Lernorten“, wie Pfarrer Schärr sie nennt, erleben, sich auf die gesamte Gesellschaft übertragen lässt – warum wird dann die Einreise von internationalen Freiwilligen nicht auf jeder Ebene unterstützt? Warum werden sie nicht behandelt wie DAAD-Studierende? Warum müssen wir gefühlt um jedes Visum kämpfen, damit der oder die Freiwillige aus dem Ausland meine Großmutter pflegen darf?

Internationale Freiwilligendienste werden unsere gesellschaftlichen Probleme nicht auf der Stelle lösen. Aber sie können ein Baustein sein auf dem Weg zu einer Gemeinschaft, die in der Lage ist Vielfalt zu nutzen und im Gegenüber mehr Gemeinsames als Trennendes wahrzunehmen.

Auf diesem Weg haben wir noch einige Hürden zu nehmen: Bislang werden in den meisten geförderten Incoming-Freiwilligendiensten nur solche Kosten erstattet, die in Deutschland anfallen. Vorbereitung und Sprachkurs im Herkunftsland, Visa- und Flugkosten müssen viele Freiwillige aus dem Ausland selbst bezahlen, somit ist die Gruppe derjenigen, die überhaupt einen Dienst in Deutschland machen kann, sehr eingeschränkt.

Was wir brauchen, damit die Motivation und das Engagement für einen sozialen Dienst und nicht der Geldbeutel entscheidet, ist eine Finanzierung der oben genannten Kosten. Internationale Freiwillige brauchen zudem Unterkunft und Verpflegung, denn anders als inländische Freiwillige können sie natürlich nicht zu Hause wohnen. Momentan tragen die Einsatzstellen diese Kosten, wenn sie können. Sollen noch mehr Einrichtungen von den Vorteilen internationaler Freiwilliger profitieren, brauchen wir auch hier eine angemessene Förderung.

Dass wir genauso viele internationale Freiwillige in Deutschland aufnehmen wie wir aus Deutschland in die Welt entsenden (2019: 4.586 Incoming, 7.665 Outgoing)[1], ist noch eine ferne Vision. Doch eine Vision ist wichtig, denn sie zeigt die Richtung, in die wir gehen müssen.

Christina Schulte, Geschäftsführerin von VIA e.V. und AKLHÜ Vorstandsmitglied, berichtet über die Herausforderung der Incoming-Dienste, die große Bereicherung, die Incomer*innen sowohl für das Herkunftsland als auch für Deutschland durch ihre unterschiedlichen Erfahrungen, Einstellungen und manchmal auch Werte mitbringen, darstellen, und die damit verbundene Gestaltung eines interkulturellen Lernortes. 

 


[1] Die Zahlen schließen sowohl staatlich geförderte Freiwilligendienste als auch Freiwilligendienste auf privatrechtlicher Basis mit ein (Statistische Erhebung 2019, AKLHÜ).

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